E·ratio

Issue 19

 

 

 

Die Frau in Symbolen /

         The Woman In Symbols

 

Doris Neidl

 

translated by Doris Neidl

 

 

 

 

Madame Cluny war immer schon der Ansicht, dass es sich so nicht zu leben lohnte.  Sie schaute auf die an ihr vorbeiziehende Landschaft.  Das Abteil des Zuges war fast leer, ihr schräg gegenüber saß ein älterer Herr in eine Zeitung vertieft.  Er hatte ein giftgrünes Ipod an seiner Jacke hängen und hörte Musik.  Ab und zu schüttelte er den Kopf.

 

Nachdem ihre erste Liebe an der Krankheit des Jahrhunderts gestorben war, begann sie in Symbolen zu leben.  Seither spielte sich ihr Leben symbolisch ab.  Alles was sie tat oder dachte, war ein Symbol für etwas anderes und so zog das Leben an ihr vorbei, so wie die Landschaft.

 

Madame Cluny war eine Frau in ihren Dreißigern, sie schaute jünger aus, weil sie zierlich war.  Doch betrachtete man sie näher, bemerkte man ihre Falten.  Ihr Gesicht  konnte sich innerhalb eines Gespräches von einem Kindergesicht zu einem Gesicht einer Großmutter verwandeln und sprach man mit ihr, bekam man manchmal das Gefühl, daß man verschiedene Personen vor sich hatte.

Sie war von einer zarten, unauffälligen Schönheit. Sie war viel zu dünn und mußte sich unzählige Male von der Frage, ob sie denn nicht genug esse, stören lassen.  Nackt wandelte sich ihre Dünnheit in eine unerwartete Fülle um und die wenigen Männer, die sie nackt gesehen hatten, erfreuten sich dieser.

 

Madame Cluny war eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand und doch schwebte sie wie ein Geist in ihren Symbolen.  Sie hatte Englisch, Italienisch und Kulturwissenschaften studiert, lebte in Berlin, Paris, Wien und New York, schlug sich alleine durchs Leben und wurde von vielen ihres Mutes wegen, bewundert.  Wer sie kannte, wußte um ihre Schwermut, durchzogen mit einem unvergleichlichen Humor für die Tragik ihres Schmerzes.  Auch meinten einige, sie sei einfach zu romantisch, um ein normales Leben zu führen.  Sie wünschte sich auch kein normales Leben, sondern eine Befreiung aus ihrer Welt der Symbole.

 

Nachdem ihre große Liebe gestorben war, liebte sie noch zweimal.  Sie hatte einmal gelesen, daß man nur drei Mal im Leben richtig lieben kann.  Daher dachte sie, sei ihre Kapazität an Liebesfähigkeit ausgeschöpft.  Insgeheim aber hoffte sie, daß diese Theorie nicht stimmte.

 

Den einen Mann lernte sie in einem Zeichenstudio in New York kennen.  Er gefiel ihr sofort und bald schon lernte sie alles an ihn zu lieben, seine Geschichte, seine Zähne, sein Lachen und seine immer halb geöffneten Augen.  Sie lachte viel mit diesem Mann, er kochte ihr die besten Gerichte und erzählte ihr Geschichten, aus einem Land, daß sie nicht kannte, nachdem sie sich immer sehnte.  Er lebte dieselbe Schwermut die sie lebte, sie lebte dieselben Ängste, die er lebte.  Am Tag vor ihrer Abreise, nachdem sie sich ein letztes Mal geliebt hatten, flüsterte er ihr ins Ohr: „Bleib.“  Doch sie hörte es nicht, weil sie in ihren Symbolen gefangen war.  Erst Monate später, als sie in der Badewanne lag und sich nach ihm sehnte, weit von ihm entfernt, da hörte sie es: „Bleib.“  Doch da war es zu spät.

 

Der Dritte hatte sie nie bei ihren Namen genannt.  Einmal nur, doch da betonte er ihn auf der falschen Silbe.  Er war verheiratet und hatte zwei Kinder, die er über alles liebte.  Er suchte ein Abenteuer, Madam Cluny suchte ihn.  Nachdem sie ihn ein Jahr gesucht hatte, sah sie ein, daß sie ihn niemals finden würde, weil er sich selbst verloren hatte, so wie sie sich selbst in ihren Symbolen verirrt hatte.  Sie kehrte ihm den Rücken und ging. 

 

Als sie aus dem Fenster schaute und die Landschaft an ihr vorbeiziehen sah und sie daran dachte, dass sie nicht mehr in ihren Symbolen leben möchte, öffnete sich die Abteilstür des Zuges und ein großer Mann mit Haaren, die ihm zu Berge standen, und einer Tasche voll gefüllt mit Papier, öffnete die Tür.  Er musste sich ein wenig beugen, um sich nicht den Kopf anzustoßen.  Er begrüßte Madame Cluny und den älteren Herren mit dem grünen Ipod und setzte sich genau gegenüber von Madame Cluny, so dass sie die Beine einziehen musste.  Nach einer Weile sagte er:  „Hi, I am from Amerika!  Ich spreche Deutsch.“  Madame Cluny lächelte ihm zu.  Dann nahm er seine Zettel und begann irgend etwas zu korrigieren.  Obwohl sich Madame Cluny Mühe gab, ihn nicht zu beobachten, wurde sie doch neugierig, was er da tat.  Als hätte er ihre Gedanken gelesen, erklärte er:  „Ich schreibe einen Brief an Gott.“  „An Gott?“ fragte Madame Cluny ungläubig.  „ Ja, an Gott, ich suche die Liebe fürs Leben.“  Sie versuchte ernst zu bleiben, doch innerlich begann sie zu lachen.  Sie fragte sich was zum Teufel ein Amerikaner, der einen Brief an Gott schreibt, um die Liebe des Lebens zu finden in einem Regionalzug nach Selzthal suchte.  Und sie fragte sich auch, was das nun wieder für ein Symbol sei und da bemerkte sie, wie leicht plötzlich ihr Herz wurde und es schneller zu schlagen begann und sich ihre Welt der Symbole aufzulösen begann. 

 

Da näherte sich der Zug der kleinen Ortschaft, die sie einmal ihre Heimat nannte und am Bahnsteig sah sie schon ihren besten Freund mit seinen drei Kindern stehen, die ihr fröhlich zuwinkten.  Sie stand auf, jetzt mußte er seine Beine einziehen, um sie vorbei zu lassen.  Als sie bei der Tür war, hörte sie: „Sehen wir uns wieder?“  Sie drehte sich um, und schaute in dieses Gesicht eines Fremden, das ihr so vertraut schien, lächelte und antwortete: „ Inch’Allah.“ 

 

 

 

Madame Cluny has always been of the opinion that it is so not worth living like this.  She looked at the landscape passing by.  The cabin of the train was almost empty, diagonally from her sat an elderly gentleman reading a newspaper.  He had a bright green I-pod on his jacket and was listening to music.  Now and then he shook his head. 

 

After her first love had died of the disease of the century, Madame Cluny began to live in symbols.  Since then, her life played symbolically.  Everything she did or thought was a symbol for something else, and so her life passed by, like the landscape she was looking at. 

 

Madame Cluny was a woman in her thirties, she looked younger because she was petite.  But looking closer, one could see her wrinkles.  Her face could change within a minute from a child’s face to the face of a grandmother and speaking to her, one got the feeling of talking to different people. 

         She was a delicate, inconspicuous beauty.  She was much too thin.  But naked her thinness transformed into an unexpected fullness and the few men who had seen her naked, rejoiced in it. 

 

Madame Cluny was a woman down to earth and yet she floated like a ghost in her symbols.  She had studied English, Italian and Cultural Studies, lived in Berlin, Paris, Vienna and New York, she lived her life alone and was admired by many for her courage.  Those who knew her better, knew about her sadness, lanced with an incomparable humor for the tragedy of her pain.  Also, some thought that she was much too romantic to lead a normal life.  What they didn’t understand was, that she didn’t want a normal life, but liberation from the world of symbols she was living in. 

 

After her true love died, she loved two more times.  Once she had read that one could only love three times in a lifetime.  Therefore she thought her capacity to love was already behind her.  But secretly she hoped that this theory was wrong. 

 

One man she had met in a drawing studio in New York.  She liked him immediately and she soon learned to love everything about him, his history, his teeth, his laughter and his always half-opened eyes.  She laughed a lot with this man, he cooked her the best dishes and told her stories from a country that she had never seen, but had always longed to visit.  He lived the same melancholy that she lived, she lived the same fears that he lived.  The day before her departure, after they made love one last time, he whispered in her ear: “Stay.”  But she couldn’t hear it because she was caught in her symbols.  Only months later, as she laid in the bath and longed for him, far away from him, she heard it: “Stay.” But then it was too late. 

 

The third man she loved never called her by her name.  Only once, but then he pronounced it on the wrong syllable.  He was married and had two children, whom he loved more than anything.  He was looking for an adventure, Madam Cluny was looking for him.  After she had been looking for him for a year, she realized that she would never find him, because he had lost himself, just as she had lost herself in her symbols.  She turned her back on him and left. 

 

As she looked out of the window watching the passing landscape and thinking that she no longer wants to live in her symbols, the door of the cabin opened and a tall man who’s hair stood up end, came in.  His bag was filled with paper.  He had to bend a little not to bump his head.  He nodded to Madame Cluny, and to the older gentleman with the green iPod, and sat down exactly on the opposite side of Madame Cluny, so that she had to move her legs.  After a while he said, “Hi.  I am from America! I speak German.”  Madame Cluny smiled at him.  Then he took his notepad and started to correct his papers.  Although Madame Cluny tried not to watch him, she was curious to see what he was doing.  As if he were reading her thoughts, he said: “I am writing a letter to God.”  “To God?” she asked disbelievingly.  “Yes, to God.  I’m looking for the love of my life.”  Madame Cluny tried to keep a serious face, but inside she began to laugh.  She wondered what the hell an American who writes a letter to God to find the love of his life, was doing in a regional train to Selzthal.  And she asked herself what kind of symbol this was now and suddenly she realized how her heart began to beat faster and the world of symbols seemed to dissolve. 

 

The train approached the station of the small town she once called her home and she saw her best friend with his three children waving cheerfully.  She stood up.  Now he had to move his legs, to let her pass.  When she was at the door, she heard him say: “Will I see you again?”  She turned around and looked into this face of a stranger, which seemed so familiar to her, smiled and replied: “Inch’ Allah.” 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Doris Neidl is an Austrian born artist who lives and works in Vienna, Austria, and in Brooklyn, NY.  She studied at the University of Art and Industrial Design in Linz, Austria, and graduated in 1996 with an MFA.  Her work has appeared in a number of solo and group exhibitions nationally and internationally.  Her writings have been published by several publications and in 2008/2009 she received a writing grant from the Austrian Government BMUKK for her project “The Women in Symbols.”  She has participated in short and long-term artist residences in the United States, France, Italy and Czech Republic. 

 

 


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