Die
Frau in Symbolen /
The
Woman In Symbols
Doris
Neidl
translated
by Doris Neidl
Madame
Cluny war immer schon der Ansicht, dass es sich so nicht zu leben
lohnte. Sie
schaute auf die an ihr vorbeiziehende Landschaft. Das Abteil
des Zuges war fast leer, ihr schräg gegenüber saß ein älterer
Herr in eine Zeitung vertieft. Er hatte ein giftgrünes
Ipod an seiner Jacke hängen und hörte Musik. Ab und
zu schüttelte er den Kopf.
Nachdem
ihre erste Liebe an der Krankheit des Jahrhunderts gestorben war,
begann sie in Symbolen zu leben. Seither spielte sich ihr Leben
symbolisch ab. Alles was sie tat oder dachte, war ein Symbol
für etwas anderes und so zog das Leben an ihr vorbei, so wie
die Landschaft.
Madame
Cluny war eine Frau in ihren Dreißigern, sie schaute jünger
aus, weil sie zierlich war. Doch betrachtete man sie näher,
bemerkte man ihre Falten. Ihr Gesicht konnte sich innerhalb
eines Gespräches von einem Kindergesicht zu einem Gesicht einer
Großmutter verwandeln und sprach man mit ihr, bekam man manchmal
das Gefühl, daß man verschiedene Personen vor sich hatte.
Sie
war von einer zarten, unauffälligen Schönheit. Sie war
viel zu dünn und mußte sich unzählige Male von der
Frage, ob sie denn nicht genug esse, stören lassen. Nackt
wandelte sich ihre Dünnheit in eine unerwartete Fülle um
und die wenigen Männer, die sie nackt gesehen hatten, erfreuten
sich dieser.
Madame
Cluny war eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand und doch
schwebte sie wie ein Geist in ihren Symbolen. Sie hatte Englisch,
Italienisch und Kulturwissenschaften studiert, lebte in Berlin, Paris,
Wien und New York, schlug sich alleine durchs Leben und wurde von
vielen ihres Mutes wegen, bewundert. Wer sie kannte, wußte
um ihre Schwermut, durchzogen mit einem unvergleichlichen Humor für
die Tragik ihres Schmerzes. Auch meinten einige, sie sei einfach
zu romantisch, um ein normales Leben zu führen. Sie wünschte
sich auch kein normales Leben, sondern eine Befreiung aus ihrer Welt
der Symbole.
Nachdem
ihre große Liebe gestorben war, liebte sie noch zweimal. Sie
hatte einmal gelesen, daß man nur drei Mal im Leben richtig
lieben kann. Daher dachte sie, sei ihre Kapazität an Liebesfähigkeit
ausgeschöpft. Insgeheim aber hoffte sie, daß diese
Theorie nicht stimmte.
Den
einen Mann lernte sie in einem Zeichenstudio in New York kennen. Er
gefiel ihr sofort und bald schon lernte sie alles an ihn zu lieben,
seine Geschichte, seine Zähne, sein Lachen und seine immer halb
geöffneten Augen. Sie lachte viel mit diesem Mann, er
kochte ihr die besten Gerichte und erzählte ihr Geschichten,
aus einem Land, daß sie nicht kannte, nachdem sie sich immer
sehnte. Er lebte dieselbe Schwermut die sie lebte, sie lebte
dieselben Ängste, die er lebte. Am Tag vor ihrer Abreise,
nachdem sie sich ein letztes Mal geliebt hatten, flüsterte er
ihr ins Ohr: „Bleib.“ Doch sie hörte es nicht,
weil sie in ihren Symbolen gefangen war. Erst Monate später,
als sie in der Badewanne lag und sich nach ihm sehnte, weit von ihm
entfernt, da hörte sie es: „Bleib.“ Doch da
war es zu spät.
Der
Dritte hatte sie nie bei ihren Namen genannt. Einmal nur, doch
da betonte er ihn auf der falschen Silbe. Er war verheiratet
und hatte zwei Kinder, die er über alles liebte. Er suchte
ein Abenteuer, Madam Cluny suchte ihn. Nachdem sie ihn ein
Jahr gesucht hatte, sah sie ein, daß sie ihn niemals finden
würde, weil er sich selbst verloren hatte, so wie sie sich selbst
in ihren Symbolen verirrt hatte. Sie kehrte ihm den Rücken
und ging.
Als
sie aus dem Fenster schaute und die Landschaft an ihr vorbeiziehen
sah und sie daran dachte, dass sie nicht mehr in ihren Symbolen leben
möchte, öffnete sich die Abteilstür des Zuges und
ein großer Mann mit Haaren, die ihm zu Berge standen, und einer
Tasche voll gefüllt mit Papier, öffnete die Tür. Er
musste sich ein wenig beugen, um sich nicht den Kopf anzustoßen. Er
begrüßte Madame Cluny und den älteren Herren mit
dem grünen Ipod und setzte sich genau gegenüber von Madame
Cluny, so dass sie die Beine einziehen musste. Nach einer Weile
sagte er: „Hi, I am from Amerika! Ich spreche Deutsch.“ Madame
Cluny lächelte ihm zu. Dann nahm er seine Zettel und begann
irgend etwas zu korrigieren. Obwohl sich Madame Cluny Mühe
gab, ihn nicht zu beobachten, wurde sie doch neugierig, was er da
tat. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, erklärte
er: „Ich schreibe einen Brief an Gott.“ „An
Gott?“ fragte Madame Cluny ungläubig. „ Ja,
an Gott, ich suche die Liebe fürs Leben.“ Sie versuchte
ernst zu bleiben, doch innerlich begann sie zu lachen. Sie
fragte sich was zum Teufel ein Amerikaner, der einen Brief an Gott
schreibt, um die Liebe des Lebens zu finden in einem Regionalzug
nach Selzthal suchte. Und sie fragte sich auch, was das nun
wieder für ein Symbol sei und da bemerkte sie, wie leicht plötzlich
ihr Herz wurde und es schneller zu schlagen begann und sich ihre
Welt der Symbole aufzulösen begann.
Da
näherte sich der Zug der kleinen Ortschaft, die sie einmal ihre
Heimat nannte und am Bahnsteig sah sie schon ihren besten Freund
mit seinen drei Kindern stehen, die ihr fröhlich zuwinkten. Sie
stand auf, jetzt mußte er seine Beine einziehen, um sie vorbei
zu lassen. Als sie bei der Tür war, hörte sie: „Sehen
wir uns wieder?“ Sie drehte sich um, und schaute in dieses
Gesicht eines Fremden, das ihr so vertraut schien, lächelte
und antwortete: „ Inch’Allah.“
Madame
Cluny has always been of the opinion that it is so not worth living
like this. She looked at the landscape passing by. The
cabin of the train was almost empty, diagonally from her sat an elderly
gentleman reading a newspaper. He had a bright green I-pod
on his jacket and was listening to music. Now and then he shook
his head.
After
her first love had died of the disease of the century, Madame Cluny
began to live in symbols. Since then, her life played symbolically. Everything
she did or thought was a symbol for something else, and so her life
passed by, like the landscape she was looking at.
Madame
Cluny was a woman in her thirties, she looked younger because she
was petite. But looking closer, one could see her wrinkles. Her
face could change within a minute from a child’s face to the
face of a grandmother and speaking to her, one got the feeling of
talking to different people.
She
was a delicate, inconspicuous beauty. She was much too thin. But
naked her thinness transformed into an unexpected fullness and the
few men who had seen her naked, rejoiced in it.
Madame
Cluny was a woman down to earth and yet she floated like a ghost
in her symbols. She had studied English, Italian and Cultural
Studies, lived in Berlin, Paris, Vienna and New York, she lived her
life alone and was admired by many for her courage. Those who
knew her better, knew about her sadness, lanced with an incomparable
humor for the tragedy of her pain. Also, some thought that
she was much too romantic to lead a normal life. What they
didn’t understand was, that she didn’t want a normal
life, but liberation from the world of symbols she was living in.
After
her true love died, she loved two more times. Once she had
read that one could only love three times in a lifetime. Therefore
she thought her capacity to love was already behind her. But
secretly she hoped that this theory was wrong.
One
man she had met in a drawing studio in New York. She liked
him immediately and she soon learned to love everything about him,
his history, his teeth, his laughter and his always half-opened eyes. She
laughed a lot with this man, he cooked her the best dishes and told
her stories from a country that she had never seen, but had always
longed to visit. He lived the same melancholy that she lived,
she lived the same fears that he lived. The day before her
departure, after they made love one last time, he whispered in her
ear: “Stay.” But she couldn’t hear it because
she was caught in her symbols. Only months later, as she laid
in the bath and longed for him, far away from him, she heard it: “Stay.” But
then it was too late.
The
third man she loved never called her by her name. Only once,
but then he pronounced it on the wrong syllable. He was married
and had two children, whom he loved more than anything. He
was looking for an adventure, Madam Cluny was looking for him. After
she had been looking for him for a year, she realized that she would
never find him, because he had lost himself, just as she had lost
herself in her symbols. She turned her back on him and left.
As
she looked out of the window watching the passing landscape and thinking
that she no longer wants to live in her symbols, the door of the
cabin opened and a tall man who’s hair stood up end, came in. His
bag was filled with paper. He had to bend a little not to bump
his head. He nodded to Madame Cluny, and to the older gentleman
with the green iPod, and sat down exactly on the opposite side of
Madame Cluny, so that she had to move her legs. After a while
he said, “Hi. I am from America! I speak German.” Madame
Cluny smiled at him. Then he took his notepad and started to
correct his papers. Although Madame Cluny tried not to watch
him, she was curious to see what he was doing. As if he were
reading her thoughts, he said: “I am writing a letter to God.” “To
God?” she asked disbelievingly. “Yes, to God. I’m
looking for the love of my life.” Madame Cluny tried
to keep a serious face, but inside she began to laugh. She
wondered what the hell an American who writes a letter to God to
find the love of his life, was doing in a regional train to Selzthal. And
she asked herself what kind of symbol this was now and suddenly she
realized how her heart began to beat faster and the world of symbols
seemed to dissolve.
The
train approached the station of the small town she once called her
home and she saw her best friend with his three children waving cheerfully. She
stood up. Now he had to move his legs, to let her pass. When
she was at the door, she heard him say: “Will I see you again?” She
turned around and looked into this face of a stranger, which seemed
so familiar to her, smiled and replied: “Inch’ Allah.”
Doris
Neidl is
an Austrian born artist who lives and works in Vienna, Austria,
and in Brooklyn, NY. She studied at the University of Art
and Industrial Design in Linz, Austria, and graduated in 1996 with
an MFA. Her work has appeared in a number of solo and group
exhibitions nationally and internationally. Her writings
have been published by several publications and in 2008/2009 she
received a writing grant from the Austrian Government BMUKK for
her project “The Women in Symbols.” She has participated
in short and long-term artist residences in the United States,
France, Italy and Czech Republic.